13 Träume

Aquilon rieb sich die Augen mit den Fäusten. »Dieses R-Pentomino ist furchtbar!« beschwerte sie sich. »Ich bekomme Kopfschmerzen! Es geht weiter und weiter.«

Cal zog den Kopf aus dem Inneren der Maschine. »Ich habe dir gesagt, daß es nach elfhundertunddrei Zügen in eine eindrucksvolle Sackgasse führt.«

»Ich weiß. Aber ich wollte es mit eigenen Augen sehen.«

»Versuche es mit dem Gleiter«, schlug er vor.

»Mit was?«

»Du hast bisher mit stationären Formen gearbeitet. Es gibt andere. Hier.« Er löste sich von der Maschine und kam zu ihr herüber. »Das ist der Gleiter.« Er malte das Punktmuster auf ihr Leinwandblatt.

»Das ist ein anderes Pentomino«, sagte sie indigniert.

Er zuckte die Achseln und kehrte zu seiner Arbeit zurück »Ich hoffe, diese Maschine zu einem spezialisierten Oszilloskop oder dem Faksimile eines solchen umbauen zu können, so daß wir in die Lage versetzt werden, unsere Signale in die Mustersprache zu übertragen. Ich habe das Gefühl, daß die Mustereinheiten mit uns genauso gerne reden wollen wie wir mit ihnen. Stell dir vor, wie verwirrend wir für sie sein müssen!«

»Aber wir sind körperlich und sichtbar«, sagte sie, während sie an der neuen Figur arbeitete.

Sie war von

übergegangen. Tatsächlich war sie jetzt ein Spiegelbild

ihrer ursprünglichen Form, endseitig gedreht. Lustig.

»Genau. Einer Einheit, deren System sich auf Punktmuster stützt, muß unsere Erscheinungs- und Handlungsweise buchstäblich unbegreiflich erscheinen.«

Sie machte die nächste Figur, wobei sie geradewegs von einer zur anderen sprang, ohne mühselige Hinzufügungen und Ausradierungen.

»Glaubst du, daß es Veg gut geht?«

»Ich bezweifle, daß ich mich jemals an die Kapriolen weiblicher Gedankengänge gewöhnen werde«, bemerkte er. »Veg ist bei Tamme.«

»Genau das meinte ich.«

»Eifersucht – in deinem Alter?«

Sie betrachtete die nächste Figur:

»He, dieses Ding wiederholt sich selbst im Rahmen neuer Quadrate! Es ist wie ein Blinker - nur daß es sich bewegt!«

»Genau. Muster können wandern. Der Gleiter bewegt sich diagonal mit einem Viertel der Lichtgeschwindigkeit.«

»Lichtgeschwindigkeit?«

»Ein Fortschreiten um ein Quadrat ist die höchstmögliche Geschwindigkeit in diesem Spiel. Deshalb nennen wir es Lichtgeschwindigkeit. Der Gleiter braucht vier Züge, um sich zu wiederholen, um ein Quadrat seitlich und um eins nach unten - ein Viertel Lichtgeschwindigkeit also.«

Sie betrachtete es und nickte. »Wunderschön!«

Veg hätte gesagt: »Genau wie du.« Nicht so Cal. Er sagte: »Eine Variante dieser Formation wird Raumschiff genannt. Raumschiffe in verschiedenen Größen können sich mit halber Lichtgeschwindigkeit vorwärtsbewegen. Während sie das tun, feuern sie Funken ab, die verschwinden, wie bei einem Düsentriebwerk.«

»Die Funkenwolke hat das getan!« rief sie aus.

»Ja. Wir kennen auch eine >Gleiterkanone<, die regelmäßig Gleiter abfeuert. Und eine weitere Figur, die Gleiter verzehrt. Tatsächlich ist es möglich, mehrere Gleiter abzufeuern, um am Knotenpunkt neue Figuren zu bilden - selbst eine weitere Gleiterkanone, die auf ihre Erzeugerkanonen zurückschießt und sie zerstört.«

»Wenn ich ein Muster wäre, würde ich mir sehr genau überlegen, wohin ich meine Gleiter abfeuere!« sagte Aquilon. »Dieses Spiel wird nach rauhen Regeln gespielt.«


»So ist es. Wie überall in der Natur. Ich könnte mir denken, daß mittels natürlicher Auslese geordnete Abwehrmechanismen auftreten, denn sonst würde das Spiel unstabil sein - vorausgesetzt es verfügt über einen Eigenwillen. Die Möglichkeiten liegen auf der Hand.«

»Besonders wenn man in drei Dimensionen kommt!«

»Ja. Ich arbeite jetzt an einem dreidimensionalen, computerisierten Planquadratgitter. Ich wünschte mir nur, ich wäre ein erfahrenerer Techniker.«

»Ich glaube, daß du ein Genie bist«, sagte sie ganz ernsthaft.

Und sie spürte ein Aufwallen von Gefühlen.

»Du kannst mir jetzt helfen, wenn du willst. Ich werde für mein dreidimensionales Gitter einige Figuren benötigen.«

»Was ist mit denen, die du hast, nicht in Ordnung? Das R-Pentomino, der Gleiter.«

»Es werden nicht dieselben sein. Eine Reihe von drei Punkten würde vier neue hervorbringen, nicht zwei wegen der zusätzlichen Dimension. Es würde sich ein kurzes Kreuz formen, das wiederum zu einer Art Hohlkubus werden würde. Ich glaube, daß es sich um eine Figur handelt, die sich bis ins Unendliche erweitert, und eine solche ist unserem Zweck nicht dienlich. Wir brauchen Figuren, die annähernd im Gleichgewicht sind, die weder zu schnell vergehen noch sich so erweitern, daß sie das ganze Gefügesystem ausfüllen.«

»Hm, verstehe«, murmelte sie und versuchte, die dreidimensionalen Permutationen der Figur auf ihre zweidimensionale Leinwand zu bringen. Sie schloß einen Kompromiß, indem sie zur Darstellung der dritten Dimension Farbe benutzte.

»Deine Reihe wird eine sich bis ins Unendliche fortsetzende dreidimensionale Figur, wie du gesagt hast.

Wie zwei parallel laufende Raupen mit jeweils acht Gliedern, wenn ich es nicht durcheinandergebracht habe. Aber fast jede Figur setzt sich fort. Es gibt ganz einfach zu viele Interaktionen.«

»Da pflichte ich bei. Wir müssen also die Regeln so modifizieren, daß sie bei drei Dimensionen denselben Zweck erfüllen wie >Leben< bei zwei. Vielleicht müssen wir festlegen, daß vier Punkte erforderlich sind, um einen fünften hervorzubringen, und daß ein Punkt stabil ist, wenn er drei . oder vier Nachbarn hat. Vielleicht auch eine andere Kombination. Falls du funktionierende Regeln und Figuren vorschlagen kannst, spart mir das viel Zeit, wenn ich diese Apparatur hier erst einmal modifiziert habe.«

»Ich werde es versuchen!« sagte sie und machte sich an die Arbeit.

Sie hatten beide schwierige, diffizile Aufgaben und von Zeit zu Zeit mußten sie eine Pause einlegen. Auch während der Arbeit plauderten sie gelegentlich miteinander.

»Sag mal, hast du eigentlich jemals das fehlende Erdbeben gefunden?« fragte Aquilon plötzlich.

Cal unterbrach seine Arbeit für einen Augenblick. Sie wußte, daß er sich geistig erst zurechtfinden mußte, da sie gerade wieder einen abrupten Themenwechsel vorgenommen hatte. Zu ihrer Überraschung ordnete er ihre Anspielung exakt ein.

»Wir waren auf Paleo drei Tage voneinander getrennt. Während dieser Zeit gab es zwei Beben, ein schwächeres und ein starkes. Ich erinnere mich deutlich an sie.«

»Für ein Genie hast du ein ziemlich schlechtes Gedächtnis«, sagte sie, lächelnd über ihr komplexes Punktmuster gebeugt. »Wir waren vier Tage voneinander getrennt, und an den ersten drei gab es Erdbeben.

Du mußt wirklich sehr mit diesem Dinosaurier beschäftigt gewesen sein, um es nicht zu bemerken.«

»Komisch, daß wir bei einer Angelegenheit, die sich so leicht verifizieren läßt, unterschiedlicher Meinung sind«, sagte er. »Sollen wir unsere Notizen im einzelnen vergleichen?«

Es war so, als ob er sie, in der Gewißheit ihrer Niederlage, zu einem Duell herausfordern würde.

Aquilons Interesse war geweckt. »Dann los!«

»Du und Veg, ihr gingt zu der Insel.«

»Nicht so im einzelnen«, sagte sie verlegen. Dann überlegte sie es sich anders. »Gut, bringen wie alles ans Tageslicht. Du wolltest einen Bericht über Paleo abgeben, der mit Sicherheit zur Ausbeutung und Zerstörung der Welt geführt hätte.«

»Ich änderte meine Meinung.«

»Laß mich ausreden. Ich wollte Orn und Ornette helfen zu überleben, weil sie einzigartige, intelligente Vögel waren, die ich sehr gern hatte. Veg kam mit mir.« Sie holte tief Luft und zwang sich zum Fortfahren. »Veg und ich liebten uns in dieser Nacht. Am nächsten Morgen brach er auf, um dich auf dem Roß zu treffen - und das erste Beben kam.«

»Ja. Nachdem er das Floß verließ, setzte ich die Segel. Ich war mir des Bebens bewußt; es brachte das Wasser zum Tanzen. Ungefähr fünfzehn Sekunden lang, leicht.«

»Selbst ein leichtes Erdbeben ist schrecklich«, sagte sie und schüttelte bei der Erinnerung leicht den Kopf. »Das war der erste Tag, das erste Beben. Wir stimmen also überein.«

»Bisher.«

Sie konnte seinem Tonfall anmerken, daß er nach wie vor davon überzeugt war, daß sie sich in bezug auf die Beben irrte. Außerdem fühlte sie sich wegen seiner offenkundig milden Reaktion auf ihr Geständnis in Sachen Veg ein bißchen unbehaglich.

»Am zweiten Tag kam Circe und erzählte uns, daß ein räuberischer Dinosaurier hinter dir her war, du dir aber von den Mantas nicht helfen lassen wolltest. Ich war der Ansicht, daß wir trotzdem allein aufbrechen sollten. Veg schlug mich und entfernte sich.«

»Das hätte er nicht tun sollen.« Wiederum eine viel zu milde Reaktion.

»Cal, ich wollte nicht, daß du stirbst. Aber ich dachte mir, daß es wichtiger war, dir zu ermöglichen, auf deine Weise das zu tun, was du glaubtest, tun zu müssen.«

»Genau. Veg hat einen Bock geschossen.«

Es war also alles in Ordnung.

Cal verstand sie. Sie hätte wissen sollen, daß er das tun würde.

»Später an diesem Tag kam das zweite Erdbeben. Es zerschmetterte die Eier - alle bis auf eins. Es war heftig, fürchterlich.«

»Ich befand mich in den Bergen. Das Beben riß Tyrannosaurus von den Füßen und rollte ihn den Berg hinunter. Ich fürchtete, daß er zu schwer verletzt war, um die Jagd fortzusetzen. Glücklicherweise erlitt er nur minimalen Schaden.«

Aquilon schnitt eine Grimasse, denn sie wußte, daß er keine Scherze machte. Es war Cals Wunsch gewesen, den Dinosaurier selbst zu besiegen, nicht mit Hilfe eines Gottesakts.

»So stimmen wir also auch beim zweiten Tag, beim zweiten Erdbeben, überein«, sagte sie.

»Wir stimmen überein. Ich stieg weiter den Berg hinauf und schlief in einer vulkanischen Höhle. Am nächsten Tag kamen die Agenten - Taler, Taner und Tam- me.«

»Nein«, sagte sie entschieden. »Am nächsten Tag gab es ein drittes Erdbeben. Es riß die Insel auseinander. Ein Plesiosaurier verschlang Ornette, so daß Orn und ich das Ei am nächsten Tag zum Festland transportieren mußten - am Morgen des vierten Tages, des Tages, an dem die Agenten kamen. Niemals werde ich diese furchtbare Wanderung durch das Wasser vergessen, bei der das Ei beschützt werden mußte! Ich war auf Orns Unterstützung angewiesen.« Cal nickte gedankenvoll, »Du hast also wirklich einen zusätzlichen Tag und ein zusätzliches Erdbeben erlebt!«

»Du hast einen Tag verloren, Cal. Was ist damit passiert?«

Er seufzte. »Das deutet auf etwas hin, was zu phantastisch ist, um daran zu glauben. Und ich glaube auch nicht daran.«

Es gab da also etwas!

»Hört sich faszinierend an! Du hast ein Geheimnis?«

»Sozusagen. Ich dachte nicht, daß es von Bedeutung sei. Du würdest die erste gewesen sein, die etwas davon erfahren hätte, wenn etwas dran gewesen wäre. Alle Männer haben Phantasievorstellungen - und auch alle Frauen, da bin ich mir sicher. Aber jetzt. mache ich mir Gedanken. Alternativwelten existieren, und in einigen von ihnen gibt es tatsächlich Duplikate unserer selbst. Die Frau, die du getroffen hast, die nackte Aqui- lon.«

»Erzähl mir nicht, daß du von nackten Aquilons träumst!« sagte sie, angenehm berührt. Aber gleichzeitig regte sie die Erinnerung an das verlorengegangene Ei auf. Sie hatte die Orn-Spezies retten wollen.

»Mehr als das, fürchte ich. Schließlich habe ich dich auch schon im richtigen Leben nackt gesehen.«

Sie erinnerte sich an die Zeit, in der sie auf Paleo unbekleidet herumgelaufen war, bevor sie die Dinosaurier entdeckt hatten. Ihr war nicht aufgefallen, daß er Notiz

davon genommen hatte.

»Du hast mich immer geliebt. Das sagtest du damals auf dem Planeten Nacre. Und ich liebe dich. Aber es hat nie viel von der. von der physischen Komponente gegeben, oder?«

»Der wesentlichen Komponente«, sagte er ernsthaft.

»Ach? Ich dachte, du betrachtest alle Dinge rein intellektuell.«

Er blickte sie über die Maschine hinweg an. »Du willst mich ermuntern.«

»Das ist es, was ich meine. Du bist zu klug für mich, und das wissen wir beide. Ich könnte dich nicht mit weiblichen Schlichen überlisten, selbst wenn ich es versuchen würde. Du intellektualisierst alles bis zu dem Punkt, an dem du keine physischen Leidenschaften mehr empfindest.«

Sie spürte einen leichten Schauder, als sie dies sagte, und wünschte sich, daß er es bestritt. Sie hatte bei Veg die Initiative ergriffen, und das war falsch gewesen. Er hatte es ihr verübelt und mit einem Schlag heimgezahlt. Vielleicht keine bewußte Motivation, aber sie war sich sicher, daß es sich um eins seiner unbewußten Motive gehandelt hatte.

»Intelligenz ist irrelevant«, sagte Cal. »Du hast beispielsweise meinen Fehler beim Zählen der Erdbeben aufgezeigt.«

»Das stimmt. Was hast du an diesem Tag und während dieses Erdbebens getan? Nackte Aquilons gejagt?«

»Ja.«

Sie blickte ihn scharf an, denn er klang ganz ernsthaft. »Du hast es wirklich getan?«

»Trag es mir nicht nach, wenn ich einen Affront gegen deine Empfindsamkeit begehe. Ich glaube, dies ist etwas, was du wissen solltest.«

»Ich empfinde es nicht als Affront«, sagte sie, die

Augen auf ihre Diagramme gerichtet. »Es interessiert mich allerdings.« Und wie! Die Analyse des dreidimensionalen Lebensspiels war jetzt nicht mehr als ein Vorwand.

Er verbarg seinen Kopf in der Maschine, so daß nur seine Stimme an ihr Ohr drang. Mit einiger Mühe widmete sie sich wieder ihrer Arbeit und hörte zu, wobei sie sich bildlich vorstellte, was er beschrieb.

»Ich entkam Tyrannosaurus, indem ich mich in einer vulkanischen Höhle versteckte, in der Nacht des Tages, an dem wir das zweite Beben hatten. Es war dort drinnen warm, denn das Wasser des kleinen Flusses war heiß. Ich war außerordentlich müde, gleichzeitig aber auch aufgeputscht: Das größte Abenteuer meines Lebens lag hinter mir. Ich hatte, auf meine Weise, den Dinosaurier besiegt!

Ich suchte mir eine bequeme Felsbank, streckte mich darauf aus und verfiel in eine schweißgetränkte Betäubung. Ich dachte an Dinosaurier und spielte mit dem Gedanken, daß einer von der Schnabeltierart, wie etwa Parasaurolophus mit dem gewaltigen Nasenkamm, in der Lage gewesen sein mochte, die Hitze dieser Höhle zu überleben. Sein Atem durch die Innenseite dieses Kamms würde sein Gewebe abgekühlt haben, genauso wie der Atem eines Hundes seine Zunge und damit seinen Körper kühlt. Aber wenn die Kreatur zu lange geblieben war oder sich in die Höhle verirrt hatte, ohne wieder nach draußen finden, dann mochte sie gestorben und durch die Flußcanyons auf der linken Seite der Gebirgskette herausgespült worden sein. Belanglose Spekulationen der Art und Weise, auf die ich mich unterhalte.«

»Ich weiß«, sagte sie sanft. Wer außer Cal würde sich schon darum kümmern, ob der Körper eines Schnabeltier-Sauriers auf der einen Seite des Bergs herausgespült worden war oder auf der anderen?

»Ich. muß in unregelmäßigen Abständen geschlafen haben. Es war nicht sehr angenehm in dieser Hitze. Gegen Morgen weckten mich die Spekulationen über den Schnabeltier-Saurier. Konnte er durch den Berg aus der Saurierenklave herauskommen? Konnte ich es? Von Neugier getrieben fing ich an, die Höhle zu erforschen, und drang tief in den Berg ein. Die Hitze war furchtbar. Als die Temperatur etwas sechzig Grad erreichte, kehrte ich um. Ich war nackt. Ich schwitzte so stark, daß Kleidung sinnlos gewesen wäre.

Dann sah ich etwas. Es war in einer Nische verborgen, unsichtbar vom Eingang der Höhle aus. Wenn ich nicht meine scharfe Nachtsicht gehabt hätte, verstärkt durch die Nacht in der Höhle, wäre es mir entgangen. Es war eine kleine Maschine. Ihre Gegenwart verblüffte mich, denn sie ließ darauf schließen, daß schon vorher Menschen hier gewesen waren. Ich spielte damit herum und versuchte, mir über ihre Beschaffenheit und ihren Zweck klar zu werden. Ich zog eine Art Schlüssel heraus.

Ein Kegel aus fahlem Licht ging von dem Gerät aus und badete mich. Ich spürte ein eigenartiges Zerren. Für einen Augenblick fürchtete ich, einer Art Falle zum Opfer gefallen zu sein, obgleich ich mir nicht vorstellen konnte, warum es dort etwas derartiges geben sollte. Dann war die Maschine verschwunden, und ich stand in der Höhle, den Schlüssel in der Hand. Erstaunt ließ 4ch mich auf einer passenden Felsbank nieder und blickte mich um. Weiter unten am Eingang der Höhle nahm ich ein Glühen wahr. Die Dämmerung brach an.

Ich ging zurück zum Höhleneingang, um nach Tyrann, meiner Reptilnemesis, zu sehen. Er war noch immer da, schlief und berührte mit seiner großen Nase fast die Höhle. Tatsächlich blockierte sein massiger

Körper den Fluß des Wassers und sorgte für die Bildung einer Pfütze. Jenseits von ihm befand sich der Schnee des Bergs und bedeckte den Rand des Canyons, wo die Hitze des Flusses nicht hinkam. Ein seltsamer Anblick: Dinosaurier im Schnee!

>Cal!< rief jemand. >Ich dachte, du bist tot!< Überrascht drehte ich mich um. Du warst da, 'Quilon nackt und schön. Dein gelbes Haar flutete dir über den Rücken wie die prächtige Mähne eines vollblütigen Pferdes, und deine blauen Augen strahlten. Ich bezweifle, daß du dir vorstellen kannst, wie schön du mir in diesem Augenblick erschienst. Ich war dem Tod ziemlich nahe gekommen, und du warst ein Engel.

>Dank dieser günstig gelegenen Höhle bin ich entkommen sagte ich, als sei unser Zusammentreffen ganz normal. Ich erinnere mich natürlich nicht an meine genauen Worte, aber sie waren ungefähr genauso platt.

>Genau wie ich<, sagtest du. >Cal, ich könnte schwören, daß ich gesehen habe, wie Tyrann dich erwischte. Es war entsetzlich. Dann ging er auf mich los, und ich habe es eben bis hier geschafft...<

>Ich sagte den Mantas, daß sie nicht eingreifen sollten. Warum bist du gekommen? <

>Ich liebe dich<, sagtest du.

Du meintest es nicht intellektuell, theoretisch oder platonisch. Deine Stimme zitterte vor Hingabe einer Frau an ihren Liebsten. Du warst wild und direkt, und ich...ich wurde dadurch ungemein beeinflußt. Du meintest es.

Das Mitansehen meines scheinbaren Todes hatte dich aufgeladen, erst mit Trauer, dann mit gewaltiger Leidenschaft. Wir waren nackt und voller Liebe, und es erschien ganz natürlich, daß wir uns dem natürlichen Höhepunkt hingaben. All die unterdrückten Gefühle, die ich dir entgegenbrachte, wurden mit dem Brechen die- ses Damms freigesetzt. Es schien so, als würde ich von deinem Körper niemals genug bekommen. Und du warst genauso wild auf mich; du warst ein Geschöpf der Lust. Es war so, als ob wir zwei Tiere gewesen wären, die sich, getrieben von einem unersättlichen erotischen Imperativ, endlos paarten. Wir blieben den ganzen Tag in dieser Höhle. Einmal gab es ein furchtbares Beben. Es riß Tyrann halb aus dem Schlaf hoch und löste die Stalagtiten von der Decke der Höhle. Wir hatten Angst, daß der Berg über uns zusammenbrechen würde - deshalb liebten wir uns erneut und schliefen und erwachten und taten es abermals.

Nachts wachte ich auf, angewidert von mir selbst, weil ich dich auf diese Weise benutzt hatte. Aber noch während ich dich in deinem göttlichen Schlaf betrachtete, wuchs die Leidenschaft wieder in mir auf, und ich wußte, daß ich mich von deinem Anblick lösen mußte, um nicht erneut schwach zu werden. Also zog ich mich in den rückwärtigen Teil der Höhle zurück.

Ich erinnerte mich an den Schlüssel und suchte ihn in der Dunkelheit. Meine Hand fand ihn auf der Felsbank. Ich nahm ihn hoch und schüttelte ihn. Und plötzlich war ich von Licht umgeben und hatte dieses Schwindelgefühl und da war die Maschine wieder unmittelbar vor mir.

Beunruhigt kehrte ich zu der Stelle zurück, wo du schliefst, aber du warst verschwunden. Du konntest nicht durch den Höhleneingang nach draußen gegangen sein, denn da war Tyrann, und es gab keine frischen Pulverschneespuren in seiner Nähe. Ich war mir sicher, daß du nicht den Rückausgang genommen hattest, denn da war ich ja gewesen. Und doch gab es keinerlei Anzeichen von deiner Gegenwart. Selbst das Moos auf der Felsbank, auf der wir uns geliebt hatten, war nicht durcheinandergebracht, ganz so, als ob niemals jemand

darauf gelegen hätte.

Verzeih mir: Meine erste Empfindung war großes Bedauern, daß ich dich vor deinem Verschwinden nicht noch einmal für einen weiteren Liebesakt aufgeweckt hatte. Dann verfluchte ich meine schmutzige Natur, denn ich würde dich auch als Eunuch genauso stark lieben. Ich legte mich nieder und versuchte, es auseinanderzupflücken, und schlief schließlich wieder ein. Am Morgen wußte ich, daß es ein Traum gewesen war - die Erfüllung eines extravaganten, weit hergeholten, lächerlichen, wundervollen männlichen Wunschtraums. Und so verdrängte ich es aus meinem Bewußtsein, beschämt von den fleischlichen Unterströmungen meiner Liebe zu dir, und seitdem habe ich mir die richtige Perspektive bewahrt.«

Betäubt saß Aquilon über ihre Diagramme gebeugt da. Die Episode, die von Cal so lebhaft beschrieben worden war, hatte sich niemals ereignet, und es war schockierend, ihn so anschaulich, so uncharakteristisch reden zu hören. Und doch spiegelte sie die geheime Leidenschaft wider, die auszudrücken sie sich sehnte, wenn es nur irgendeinen Weg gegeben hätte, ihre und seine Hemmschwelle zu umgehen. Und sie sprach etwas Furchtbares an, das sie selbst bis zu diesem Augenblick zugeschüttet hatte.

»Cal...« Sie zögerte und mußte sich zwingen, fortzufahren, damit er nicht dachte, daß es Abscheu vor der sexuellen Beschreibung war, der sie zurückhielt. Und doch konnte sie nicht sagen, was sie eigentlich beabsichtigte, und so kam etwas beinahe Irrelevantes statt dessen heraus. »Cal, der Schlüssel. Was ist aus ihm geworden?«

»Was wird aus jedem Traumgegenstand, wenn der Schläfer erwacht?« fragte er zurück, ganz so, als ob er über den Wechsel des Gesprächsthemas froh war.

»Nein - hast du ihn behalten oder dagelassen? Hast du noch einmal nach dieser Maschine gesehen? Sie müßte doch.«

»Ich muß den Schlüssel automatisch zurückgelegt haben«, sagte er. »Ich bin niemals wieder in den rückwärtigen Teil der Höhle gegangen war. Er war Teil meines Abscheus, und ich weigerte mich, den Leidenschaften des Traums entgegenzukommen, indem ich den Dingen nachging.«

»Oh!« Es war ein matter Ausdruck emotionellen Schmerzes. Er war den Dingen nicht einmal nachgegangen! Aber dieser Stich schwächte ihre Hemmungen irgendwie ab, und sie war jetzt imstande, ihr eigenes zugeschüttetes Problem anzugehen. »Cal, du sagtest, ich hätte, in deinen Traum gedacht, daß du gestorben wärst. Was habe ich gesagt?«

Er gab keine Antwort, und sie wußte, daß er sich vor Augen führte, wie offen er gesprochen hatte, und deshalb von starker Verlegenheit geplagt wurde.

»Bitte, Cal - das ist wichtig für mich.«

Seine Stimme drang wieder von der Maschine herüber. »Nicht viel. Wir haben kurz darüber gesprochen, aber es war kein angenehmes Thema, und ganz offensichtlich lag irgendwie ein Irrtum vor.«

Aquilon konzentrierte sich. »Tyrann jagte in vollem Galopp hinter dir her. Diese furchtbaren, doppelschneidigen Zähne verfehlten beim Zuschnappen deinen zerbrechlichen Körper nur um wenige Zentimeter, während die Füße wie Zwillingslawinen auf dich zukamen. Schnapp! Und deine zerlumpte, puppenartige Gestalt wurde hoch in die Luft gewirbelt, gräßlich rot gestreift, und dies wurde in den bösartigen Augen des Karnosau- riers widergespiegelt. Tyranns gigantische Klaue stampfte deinen Körper in den Boden. Die Kiefer schlossen sich, rissen einen Arm ab. Dein Kopf hing lose an einem gebrochenen Hals, und deine roten Augen starrten mich nicht anklagend, sondern verständnisvoll an, und ich schrie.«

Jetzt kam Cals Kopf ruckartig aus der Maschine hervor. »Ja«, rief er, »das ist im wesentlichen das, was du gesagt hast! Wie konntest du es wissen?« Dann dachte er noch einmal nach. »Es sei denn, du warst tatsächlich in dieser Höhle...«

»Nein«, sagte sie schnell. »Nein, Cal, ich war nicht da. Ich war mit Orns Ei auf einer vom Erdbeben zeris- senen Insel gestrandet. Ich schwöre es.«

Er blickte sie noch immer an. »Du hast dir meinen Tod gewünscht?«

»Nein!« schrie sie. »Ich habe es geträumt - ein Alptraum. Und ich habe diesen Traum an jenem dritten Tag, vor dem letzten Beben, den Vögeln Om und Ornette erzählt. Daß ich dich sterben gesehen hatte.«

»Du hast es geträumt - zur selben Zeit, als ich selbst träumte.«

»Cal«, sagte sie, während sie ein weiterer Erkenntnisschock durchzuckte. »In irgendeiner Alternativwelt könnte es passiert sein?«

Er kam zu ihr herüber.

»Nein. Wie könnte ich dich geliebt haben, wenn ich bereits tot war?«

Sie ergriff seine Hand, aufgewühlt, verzweifelt. »Cal, Cal. Dein Traum war soviel besser als meiner. Mach, daß er wahr wird!«

Er schüttelte den Kopf. »'Quilon, ich hatte nicht vor, dich zu verletzen. Es war ja nur, daß ich für den Fall eines fehlenden Tages genötigt sein würde, daran zu glauben, daß irgendwie. Aber die ganze Sache ist irrsinnig. Ich liebe dich wirklich, das hat nie in Zweifel gestanden, aber in dieser Höhle habe ich rund um die Uhr durchgeschlafen und mich von den Strapazen der

Jagd erholt, und es ist kaum verwunderlich, daß übertriebene Wunschvorstellungen zum Vorschein kamen, ein häßlicher Ausdruck von.«

»Es ist mir egal!« rief sie. »Dein Traum war nicht häßlich - meiner war es. Deiner war zutreffender als das, was du glaubst. Ich bin so - oder könnte, würde so sein, wenn ich der Ansicht wäre, daß ich dich verloren hätte. Du denkst gerne, daß ich kühl und keusch bin, aber das bin ich nicht. Ich war es nie! Ich habe Veg verführt - wir sind kein platonisches Dreieck. Ich habe einen Fehler begangen, aber dies ist kein Fehler. Ich will dich auf jede Weise lieben, zu der ich in der Lage bin!«

Er studierte sie unsicher. »Du willst den Traum - und alles, was er bedeutet?«

»Deinen Traum, nicht meinen. Dann wirst du mich so kennen, wie ich wirklich bin. Ja, ich will es - jetzt!«

Er schüttelte den Kopf, und sie fühlte sich plötzlich aus der Fassung gebracht, weil sie fürchtete, daß sie ihn durch ihre Zielstrebigkeit abgestoßen hatte. Liebte er nur ein ätherisches Wunschbild, nicht die Wirklichkeit?

»Ich nehme dich beim Wort«, sagte er. Erleichterung und Überraschung durchfluteten sie und machten sie ganz schwach. »Nachdem wir dieses Projekt zu Ende geführt haben.«

»Kommunikation mit den Mustereinheiten? Aber das kann Tage dauern!«

»Oder auch Wochen oder Jahre. Wir werden Zeit genug haben.«

»Aber die Träume, die Höhle.«

»Wir sind nicht in der Höhle.«

Sie erkannte, daß er nicht gewillt war, die Liebesorgie des Traums, die er beschrieben hatte, neu in Szene zu setzen. Hatte sie wirklich geglaubt, daß er das tun würde? Dies war Cal, zivilisiert und kontrolliert. Die keusche, himmlische Personifizierung - sie betraf ihn, nicht sie.

Und doch hatte er eingewilligt. Warum?

Weil er ihr Zeit zum Nachdenken geben wollte. Die Spontanität des Augenblicks konnte zu leicht zu Bedauern führen, wie es bei ihr und Veg oder bei Cal und seinem Traummädchen in der Höhle der Fall gewesen war. Er würde nichts nehmen, von dem er sich nicht sicher war, daß er es auch besaß.

Es war besser so.

Er küßte sie. Dann war sie davon überzeugt.

Es war also nicht der Traum. Es war Liebe, aus dem Unterdrückten zum Ausdruck gebracht, zart, kontrolliert, gelassen. Diese einfache Bestätigung der Bindung war viel bedeutsamer, als es der wildeste erotische Traum jemals sein könnte.

Innerlich glühend vervollständigte sie ihre Tabellen, während er an der Maschine arbeitete, ganz so, als hätte es keine Unterbrechung gegeben, ganz so, als ob sie durch eine Wüste gewandert wären und plötzlich die Erlaubnis zum Betreten eines exotischen Gartens mit faszinierenden Wundern und Wohlgerüchen bekommen hätten, der in aller Ruhe gemeinsam erforscht werden konnte. Ja, sie würden genug Zeit haben!

»Ich habe >ideale< Regeln für eine, zwei und drei Dimensionen ausgearbeitet«, sagte sie strahlend. »Eine Dimension würde einer Reihe entsprechen. Man braucht einen Punkt, um einen neuen zu machen, und jeder Punkt mit zwei Nachbarn oder gar keinen Nachbarn verschwindet. Es funktioniert nicht sehr gut, weil ein Punkt eine Figur bildet, die sich mit Lichtgeschwindigkeit bis ins Unendliche fortsetzt, und man kann eine Figur nicht einmal mit weniger als einem anfangen. Bei zwei Dimensionen bleibt es so, wie es jetzt ist: Drei

Punkte bringen einen vierten hervor, und ein Punkt ist unstabil, wenn er weniger als zwei oder mehr als drei Nachbarn hat. Da bis zu acht Nachbarn möglich sind, gibt es eine viel größere Variationsbreite als bei dem eindimensionalen Spiel.«

»Natürlich«, stimmte Cal zu.

»Bei drei Dimensionen gibt es siebenundzwanzig potentielle Interaktionen oder bis zu sechsundzwanzig Nachbarn. Wir sollten sieben Nachbarn erforderlich machen, um einen neuen Punkt hervorzubringen, und die Figur ist stabil mit sechs oder sieben. Weniger als sechs oder mehr als sieben eliminieren einen gegebenen Punkt. Ein Kubus mit acht Punkten würde also stabil sein, da jeder Punkt sieben Nachbarn hätte - wie das Vierpunkt-Quadrat in der zweidimensionalen Version.«

Cal nickte. »Ich glaube, es wird funktionieren. Probieren wir also ein paar Formen auf unserem kubischen Gitter aus, wobei wir diese Regem zugrunde legen.«

Ich glaube, es wird funktionieren. Und Aquilon war mit diesem indirekten Lob für ihre Arbeit genauso zufrieden wie mit allem, was sich ereignet hatte.